Guten Morgen!
Jordan Bardella, der Spitzenkandidat des Rassemblement National bei der französischen Parlamentswahl und mögliche nächste Premierminister, ist in Drancy aufgewachsen, einer Banlieue neben der Groß-Banlieue Saint-Denis Richtung Flughafen Charles de Gaulle. Ich war auch einmal in Drancy. Mit Wolfgang Sobotka, dem Nationalratspräsidenten. Dort war zur NS-Zeit das Sammellager für französische Juden gewesen, von hier gingen die Züge weg in die Konzentrationslager, allen voran nach Ausschwitz. Leiter dieses Lagers war der österreichische SS-Mann Alois Brunner. Heute steht dort eine Gedenkstätte.
Was es über das heutige Drancy zu sagen gibt? Sagen wir es so: Favoriten wirkt noch ziemlich westlich dagegen. Aber auch die Stadt Wien wird aufpassen müssen. Mit Selbstüberschätzung und Realitätsverweigerung wird man nicht weit kommen. Der scheidende Wiener Bildungsdirektor Heinrich Himmer, der für die SPÖ in den Nationalrat einziehen will, gab nun dem „Kurier“ ein Interview, das sich in etwa so zusammenfassen lässt: Die Schlagzeilen in den Zeitungen seien übertrieben, es gebe ein großes Miteinander in den Schulen und er blicke optimistisch in deren Zukunft. An Problemen, sollte es überhaupt welche geben, ist der Bund schuld. Im Vorjahr erschien eine OGM-Studie über die Kaufkraft in den einzelnen Bundesländern. Während etwa das Burgenland – das Burgenland! – kräftig anzog und mittlerweile auf Rang zwei liegt, ist die Stadt Wien das Schlusslicht.
Migration, Sicherheit, Kaufkraft waren Demoskopen zufolge die zentralen Themen der Wahl in Frankreich. Im französischen Königreich hat man seinerzeit kurz vor der Revolution wahrscheinlich auch leidenschaftlich darüber diskutiert, ob auf einem zentralen Platz vor dem Louvre nun ein Wasserspiel angebracht werden soll oder nicht.
Der bislang von Paris bis Wien von (linken) Politikern, Journalisten und Intellektuellen vorgebrachte Imperativ, man dürfe die Rechtspopulisten nicht wählen, weil man sie nicht wählen darf, funktioniert nicht mehr. In Frankreich nicht, in Österreich vermutlich auch nicht.
Apropos Burgenland: Falls sich jemand fragt, wie Hans Peter Doskozil, als burgenländischer Landespolizeikommandant während der Flüchtlingskrise 2015 noch der Held der Linken, in der Migrationspolitik derart restriktiv werden konnte: Während der Fußball-EM 2016 war der damalige Verteidigungs- und Sportminister Doskozil bei seinem Pendant in Paris zu Gast. Was ihm dort geschildert wurde, hat ihn offenbar nachhaltig geprägt. Sein Credo in der Migrationspolitik lautete fortan: Was er nicht wolle, seien Zustände wie in manchen Banlieues in Frankreich, in die sich die Polizei nicht mehr hineintraue.
Jacques Fredj, der Leiter der Shoa-Erinnerungsstätte in Drancy, klagte bei Sobotkas Besuch darüber, wie schwierig es sei, den Jugendlichen hier den Holocaust zu vermitteln. Er sei viel an Schulen unterwegs, gerade auch in den Problemvierteln und Vorstädten. Viele Schüler hätten das Gefühl, dass sie selbst Opfer von Rassismus seien und die Juden ihnen diese Rolle wegen des Holocaust streitig machen würden. Daher spreche er dort generell über Genozide, jenen an den Armeniern, jenem in Ruanda und anderen, um die Jugendlichen so auch für den Holocaust zu sensibilisieren. Der Einwand Wolfgang Sobotkas, dass der Holocaust aufgrund des industriellen Massenvernichtungscharakters ein singuläres Ereignis gewesen sei, verfing bei Jacques Fredj nicht. So käme man hier nicht weiter, meinte er, denn man müsse vergleichen, sonst könne man viele der heutigen Jugendlichen in den französischen Schulen gar nicht erreichen. Eine Aufgabe, die seit dem 7. Oktober wohl nicht einfacher geworden ist.
Es ist heute eine verkehrte Welt in Frankreich: Der Front National, von den Petainisten, den Kollaborateuren von einst, mitbegründet, steht in seiner Nachfolgeversion nun an der Seite Israels, sodass sogar der als „Nazijäger“ bekannte Serge Klarsfeld sie in der Stichwahl zu wählen gedenkt. Und die Linke muss sich antisemitisch nennen lassen. Jedenfalls die extreme unter Jean-Luc Mélenchon. Der Rabbi der Großen Synagoge in Paris, Moshe Sebbag, sagte nun: „Es gibt keine Zukunft mehr für Juden in Frankreich.“
Slawa Ukrajini!
Oliver Pink